9punkt - Die Debattenrundschau

Unter einer blauen Plane

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2024. Die antiisraelischen Studentenproteste gehen weltweit weiter. Londoner Behörden packen jetzt Holocaust-Mahnmale ein, um sie vor Vandalen zu schützen, berichtet Daily Mail. Die SZ greift einen Artikel des Tech-Kritikers Cory Doctorow auf und prangert neue Formen des Überwachungskapitalismus an: Du merkst es an der Sitzheizung in Deinem BMW! In Zeit online will Politikwissenschaftler Marcus Bösch nicht mehr nur Jugendliche vor Tiktok schützen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.04.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

An der Columbia University dominieren nach wie vor propalästinensische Studenten das Bild, die Israelis empfehlen, "nach Polen" zurück zu gehen. Frauke Steffens berichtet in der FAZ wohlwollend über die Arbeit studentischer Journalisten, die an Uni-Radios und beim Columbia Daily Spectator durch ausgewogene Berichterstattung auffielen. Das sieht dann so aus, dass die Jungjournalisten bitten, die Mehrheitsmeinungen an der Uni zu respektieren, etwa beim Thema Israelboykott: "Im offiziellen Referendum am zur Universität gehörenden Columbia College etwa hätten rund 77 Prozent der Studierenden für den Rückzug der Hochschule aus israelischen Investitionen und rund 66 Prozent für ein Ende des Doppeldiploms mit der Universität Tel Aviv gestimmt."

Das aktuelle Editorial des Columbia Daily Spectator klingt dann auch eher aktivistisch. In einem offenen Brief an die Uni-Präsidentin Minouche Shafik beklagen die Jungjournalisten, dass diese die Polizei auf dem Campus zugelassen hätte und die Meinungsfreiheit beschädige. "Wenn Sie wirklich an 'gemeinsame Werte, die uns verbinden' appellieren wollen, müssen Sie sich mit den mehr als 30.035 palästinensischen Todesopfern auseinandersetzen. Ihre Studenten 'diktieren keine Bedingungen'; sie fordern Sie und die Verwaltung auf, sich mit den sich ausbreitenden Gräueltaten auseinanderzusetzen, an denen die Columbia mitschuldig ist."

Ebenfalls in der FAZ berichtet Michaela Wiegel über Studenten an der Pariser Elitehochschule Science Po, die sich ähnlich gebärden wie ihre New Yorker Kommilitonen.

Auch in London ist einiges los. "Die Polizei ist vom antisemitischen Mob so eingeschüchtert, dass sie sogar den Holocaust vertuscht", titelte am Wochenende die Daily Mail. So ganz stimmte die Schlagzeile allerdings nicht, denn es war nicht die Polizei, die das Mahnmal verhüllen ließ, sondern die Parkverwaltung der Stadt London - so der korrigierte Bericht der Daily Mail. "Städtische Beamte verbargen gestern Großbritanniens erstes öffentliches Mahnmal für die sechs Millionen Opfer des Nazi-Völkermords im Hyde Park unter einer blauen Plane, was ein Holocaust-Überlebender als 'beschämend' bezeichnete. Das Mahnmal wurde anschließend von Beamten der Metropolitan Police bewacht, um zu verhindern, dass es von pro-palästinensischen Demonstranten angegriffen wird, die bei einer weiteren Demonstration gegen den Krieg in Gaza durch London zogen."


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Stichwörter: Columbia University

Überwachung

Tesla kann seinen Verbrauchern die Reichweite wahlweise verlängern oder verkürzen, die Sitzheizung eines BMWs kriegt man nur durch eine monatliche Zahlung "freigeschaltet", ärgert sich Michael Moorstedt in seiner SZ-Kolumne. "Immer mehr verlieren die Verbraucher die Kontrolle über Dinge, für die sie bereits bezahlt haben. Nach Meinung des Bloggers und Tech-Kritikers Cory Doctorow handelt es sich um eine Art von Krypto-Feudalismus, in dem mal wieder eine Elite das gesamte Eigentum besitzt und das Fußvolk es auf eine vorgeschriebene Art und Weise zu nutzen hat. 'Der Unterschied ist, dass unsere Aristokratie heute nicht einmal menschlich ist.' (...) Im letzten Stadium dieses Prozesses würden die Menschen dann davon überzeugt, die entsprechende Technologie als Luxusgut anzunehmen. 'Wenn Sie vor zwanzig Jahren Ihr Abendessen unter einem ständig eingeschalteten Überwachungssystem gegessen haben, dann deshalb, weil Sie in einem Hochsicherheitsgefängnis saßen', so Doctorow. 'Heute ist es so, weil man sich ein hochwertiges Heimüberwachungssystem von Google, Amazon oder Apple gekauft hat.'"
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Stichwörter: Doctorow, Cory

Internet

Der Politikwissenschaftler Marcus Bösch lobt im Zeit Online-Interview mit Constanze Kainz den Digital Services Act (Unsere Resümees) der EU und kommt auf den Jugendschutz bei TikTok zu sprechen: "Natürlich ist es lobenswert, dass mit aller Härte aus der europäischen Sichtweise auf die Apps geschaut wird. Ich würde mir aber wünschen, dass dieses Prüfen informiert erfolgt. Gerade der Aspekt Jugendschutz hat oft etwas Paternalistisches: Da diskutiert man, wie man Kinder und Jugendliche als vulnerable Gruppen schützen kann, während zum einen die Nutzerschaft von TikTok älter geworden ist und zum anderen nicht minder geschützt werden muss. Denn die TikTok-Kompetenz ist bei jungen Leuten, die diese App auch regelmäßig nutzen, oft höher als beispielsweise bei Lehrerinnen und Lehrern. Das heißt, die Debatte um Datensicherheit lediglich auf Kinder und Jugendliche zu fokussieren, greift ein wenig zu kurz."
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Europa

Der Tod von Alexej Nawalny und die vielen Blumen auf seinem Grab haben gezeigt, dass es in Russland noch eine Opposition gibt, schreiben die Bundestagsabgeordneten Michael Roth, Anton Hofreiter und Renata Alt in einem gemeinsamen Beitrag für die Welt. Dabei weisen sie auf die rund tausend politischen Inhaftierten im Land, darunter Wladimir Kara-Mursa (Unsere Resümees)". Seit zwei Jahren ist Kara-Mursa mittlerweile in immer entlegeneren Straflagern inhaftiert - ohne medizinische Versorgung, mit äußerst sporadischem Kontakt zu seiner Familie." Deshalb fordern die drei Autoren seine sofortige Freilassung "und es braucht eine entschlossenere Unterstützung und mehr Aufmerksamkeit für die russische Opposition." Was die Ampel-Regierung bisher konkret für die russische Opposition gemacht hat, bleibt von ihren drei Repräsentanten allerdings unbeantwortet.
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Medien

Der Rundfunkbeitrag soll nicht erhöht werden, aber die Öffentlich-Rechtlichen sollten dafür klagen, findet Claudia Tieschky in der SZ. Ist die Klage erfolgreich, müssten sich nämlich die eigentlichen Verantwortlichen für die Krise des ÖRR erneut Gedanken machen: Und das seien die Bundesländer. "Es ist wirklich nicht so kompliziert. Die Länder könnten, wie gesagt, als Gesetzgeber jederzeit die Zahl der Sender in Deutschland halbieren - das würde den Beitrag senken. Das tun sie nicht. Medienpolitik braucht Einstimmigkeit, und irgendwer hat immer Standortinteressen. Was sie tun, aber nach allen Regeln der Rechtsstaatlichkeit nicht dürfen: jahrelang nichts ändern, sich darüber ärgern, zur Strafe das eigene Rundfunkmodell nicht finanzieren - und das als energische Politik verkaufen."
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Ideen

Buch in der Debatte

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In ihrem Buch "Demokratie und Revolution", das sie zusammen mit dem Zeit-Redakteur Bernd Ulrich verfasst hat, fordert die Historikerin Hedwig Richter eine Revolution von oben, der sich die Bürger freudig unterwerfen sollen - Steaks kämen dann nicht mehr auf den Teller. Sie träume von einer "Volksgemeinschaft" hatte ihr daraufhin Jürgen Kaube vorgeworfen (unsere Resümees). Philipp Krohn empfiehlt in einem neuen Beitrag mehr Pragmatismus - von Dänemark sollen wir lernen: "In der Erdölkrise nach 1973 wurde das Ziel, vom Erdöl unabhängig zu werden, zum Narrativ. Schon sechs Jahre später beschloss Dänemark ein Wärmeversorgungsgesetz, das Kommunen zu einer Wärmeplanung verpflichtete. Viereinhalb Jahrzehnte vor Deutschland. Noch mehr: Der Energieversorger Dansk Naturgas wandelte sich von einem Fossilkonzern zu Ørsted, dem weltgrößten Offshore-Windparkbetreiber. Kopenhagen wurde zur Weltfahrradhauptstadt."

Im Zeit Online-Interview mit Simone Gaul fordert die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, dass Politiker mehr ihre Emotionen zeigen, die angeblich wichtiger seien als rationales Nachdenken. "Es geht nicht darum, dass ich in jedem Moment mitteile, dass ich hungrig bin, unglücklich verliebt oder morgen in den Urlaub fahre. Sondern es geht um die versteckten emotionalen Grundlagen unserer Entscheidungen. Darum, da genauer hinzuschauen. Warum habe ich eine gewisse Überzeugung? Warum will ich ein Tempolimit oder ein Frauenwahlrecht? Ich kann nur faktenbasiert darüber reden, wenn ich mir vorher klarmache, ich habe diese und jene Überzeugung und dieses oder jenes Gefühl zu einem Thema. Sich das klarzumachen, zeugt von emotionaler Reife. Der zweite Schritt ist die kommunikative Reife, also über diese Einstellungen und Gefühle auch zu sprechen."
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